
Von Adrian ZIELCKE
Altkanzler Helmut Schmidt ist eine lebende Ikone. Aber je älter Helmut Schmidt geworden ist, desto mehr ist er geradezu zu ,,unserem Papst“ geworden. Seine öffentlichen Auftritte mit Zigarette in der Hand sind Kult, jedes seiner Bücher erreicht hohe Auflagen.
Nun in seinem 95. Lebensjahr, wirkt er zwar gebrechlich, ist aber geistig so hellwach wie wenige 40jährige. Jetzt nimmt er Abschied, zunächst war er zum letzten Mal in Asien, jetzt reist er durch Europas Hauptstädte, um sich von Weggefährten zu verabschieden. Im Mai im vergangenen Jahres ist er noch einmal nach Singapur aufgebrochen. Dort hat er seinen langjährigen Freund Lee Kuan Yew getroffen, den autokratischen Vater des Aufstiegs der Weltstadt Singapur. Auch Lee ist heute 90 Jahre alt. Dieses Gespräch bildet den Schwerpunkt von Schmidts 45. Buch „Ein letzter Besuch“.
Die beiden Alten sind durchaus nicht immer einer Meinung. Im Mittelpunkt steht natürlich der Aufstieg Chinas, seine Zukunft und das Verhältnis zum Westen. Schmidt hat uns im Laufe der Jahrzehnte China nahegebracht wie kein anderer. Unter anderem erzählt er von seinen Begegnungen mit Deng, ,,dem größten politischen Führer, den ich persönlich kennen gelernt habe.“
Zu China meint Schmidt: ,,In gewisser Weise machen die Chinesen heute das Gleiche wie die Japaner vor hundert Jahren. (…) Das Land hatte in der Mitte des 19. Jahrhunderts genauso zurückgelegen wie China in den 1990er Jahren.“
Und zur Frage der Menschenrechte sagt er drastisch: ,,Ich würde sogar als alter Kerl noch Leute mit den Fäusten bekämpfen, die die Rechte des Einzelnen beseitigen wollen! Aber ich würde es strikt unterlassen, mich in irgendeinem anderen Land einzumischen, um die Rechte seiner Bewohner zu verteidigen.“ Und er stellt die Frage, die sich jede Generation neu beantworten muss: ,,Ich überlege, wo die Grenze verläuft. Wann soll man intervenieren, um jemanden zu helfen, der von seiner Regierung oder von Kräften im Nachbarland bedroht wird? Wie soll man die Grenze festlegen, an der man moralisch gezwungen ist, jemanden zu hindern, massenweise Menschen umzubringen?“ Offenes Denken ohne Scheuklappen, aber auch ohne Hochmut, Respekt vor fremden Kulturen, Begegnungen auf Augenhöhe – das ist Helmut Schmidts Vermächtnis.
Ein letzter Besuch
Autor: Helmut Schmidt
Siedler Verlag München, 2013
192 Seiten