Nächtens am Morgen – Betrachtungen von Wolfgang Kubin

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Ich bin mit Friedrich Nietzsche nicht gerade großgeworden, aber er begegnet mir in jüngster Zeit immer wieder und immer mehr. Nicht unbedingt zu meinem Gefallen, denn er ist ein gefährlicher Denker. Als Kinder haben wir gehört, Hochmut komme vor den Fall. Bei dem Meister des Bonmots lesen wir: Gipfel und Abgrund sind eins. Nicht nur sein Leben belegt das. Wir erkennen die Wahrheit der Aussage jeden Tag. Dazu müssen nicht nur Filmsternchen oder Fußballstars herhalten. Diese gehören mit ihrem Absturz zum stündlichen Geschäft der vermeintlich freien Presse.

Was mich eher sorgt, ist die massive Überheblichkeit des Abendländers, ganz gleich ob Mann oder Frau, in Zeiten der drohenden Not. Umgangssprachlich würden wir sagen: Von nichts eine Ahnung, aber eine große Klappe. Dagegen regt sich in der Sinologenschaft inzwischen manch Unmut, selbst wenn, wie ich vermute, fünfzig Prozent unserer Kollegenschaft das Lager bereits gewechselt haben sollten. Wieso lehnen verehrte Kolleginnen meine Einladung zu einer Konferenz über das gegenseitige Verstehen an der Universität Shantou ab?

Natürlich werde ich zensiert, innerhalb und außerhalb Chinas, aber ich begehre dagegen nicht sonderlich auf, denn was gestrichen wird, ist entweder lächerlich oder überhaupt nicht nachvollziehbar. Hier zeigt sich nur die Schwäche des „Antipoden“, daher beweist sich meine Stärke. Es ist gut, einen großen Gegner (gehabt) zu haben. Dieser Ausspruch stammt vielleicht nicht von Nietzsche, hat mich aber immer sehr bewegt und vermutlich auch traurig gestimmt. Denn wenn mir jemand den Hinweis übelnimmt, wir haben 1974/75 im Spracheninstitut von Haidian das Lied „Wir lieben den Platz des Himmlischen Friedens“ singen gelernt, dann werde ich dort zur lebendigen Erinnerung, wo kein Gesang aus der Vergangenheit mehr zu hören ist. Leicht lässt sich da mit Rio Reiser summen: Die letzte Schlacht gewinnen wir.

Das ausgehende Jahr 2020 bescherte uns viel Anschauungsmaterial für die selbsterkorene Dummheit in deutschen Landen. Eine von mir nicht geliebte Ladenkette für Bücher hatte ein Abkommen mit einem chinesischen Verlag getroffen: Wie andere deutsche Verlage auch, sollte dieser eine Ecke für seine Publikationen bekommen. Schon ging ein Rauschen durch den deutschen Pressewald, und mein Lieblingssender WDR III meldete den journalistischen Nachschlag: Wie kann man nur einem kommunistischem Staatsverlag die Möglichkeit bieten…? Die mögliche Leserschaft wurde nie belehrt, welche Werke dort überhaupt ausgestellt waren. Es hatte sie niemand gesehen, noch weniger gelesen. Inzwischen ist die deutsche Journalistik auf dem Niveau angelangt, über etwas zu befinden, was nie zur Kenntnis genommen wurde. Dabei stand wahrscheinlich nur zum Angebot, was wir unseren ehrenwerten Vorfahren verdanken: Eine chinesische Version von Marx und Engels. Sind die beiden derzeit ebenfalls in deutschen Buchhandlungen und Bibliotheken verboten?

Im März 2020 tat das deutsche Fernsehen dicke. Mit Hilfe einer Sinologin brüstete sich eine bekannte Moderatorin selbstgefällig mit dem ständig wiederholten Satz: Wir haben ja Demokratie und Freiheit. Und ein Minister: Wir sind gut vorbereitet [auf die Epidemie], wir haben alles im Griff. Schön und gut, Irren ist menschlich. Die Rechnung zahlen nun am Ende der Hybris die Schwachen, die Kranken, die Toten. Und die standhaften Sinologen (eher Herren als Damen) müssen sich von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Sprachrohr der Partei beschimpfen lassen. Unser Verbrechen: Wir haben das Kartenhaus USA und das Wiedererstarken des vermeintlichen Gegners vorausgesehen. Der damalige Spott und das nicht enden wollende Gelächter sind heute dort angekommen, wo wir es nicht haben sehen wollen: Beim Zugeständnis der Überforderung auf allen deutschen Seiten.

Anfang November meinte ein Kommentator auf WDR III, warum wir noch immer nicht bereit seien, von solch alten Kulturnationen wie China zu lernen? Die Antwort finden wir vielleicht beim chinesischen Nietzsche, Lu Xun: Die Germanen turnten weiter von Ast zu Ast, als das Reich der Mitte längst die Höhe der Zivilisation erklommen hatte. Nun wissen wir, dass Wipfel und Erdboden eng beieinander liegen. Doch was unten angelangt ist, kann sich wieder berappeln. Dazu ist es notwendig, die eigene Hybris als Hybris zu erkennen, wie der Bonner Philosoph Markus Gabriel zu Beginn der Epidemie im Bonner Generalanzeiger gefordert hatte.

Quelle: „China Insight“ aus dem Deutsch-Chinesischen Ökopark Qingdao, 04-2020

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